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Lebendige Daten - Anfang einer nicht weiter verfolgten Autobiographie

von Hans-Georg Strauch (1933 - 1992)

Mein Ende begann 1933 in Mülheim a.d. Ruhr, am 27.April, sieben Tage nach einem der volksverarschenden Geburtstage des Gröfatz.

Im Schoße der Familie meines Vaters, der zudem deutscher Volksschullehrer wilhelminischer Prägung war, wurde ich gezogen.

Ich war anfangs hellblond und trug im vergitterten Quadrat auf der grünen Wiese immer eine Plümmelmütze.

An Feiertagen konnte man mich im Laufstall dort auch im viktorianischen Matrosenanzug bewundern.

Einmal entfleuchte ich der laufställigen Gartenidylle und trug mit der Plümmelmütze glänzende Anthrazitkohle in des Nachbars Keller. Der geplante Spaziergang in den hochgestilten Schrebergarten eines pedantischen Lehrerkollegen meines Vaters war geplatzt und unser Teppichklopfer auf meinem Arsch auch. Daß es dann ein richtiges Gewitter gab, daß war nun wirklich die Schuld des Petrus und als ich lange genug vergeblich geschrien hatte, schiß ich mir in die Hose und verteilte die schön bräunliche Notdurft beim Schein der Blitze auf die Stäbe meines Gitterbettes, wobei mich mein eigener Mief wohl wenig gestört hat.

Dies war einer der wichtigsten Tage meines Lebens, denn dieses Doppelerlebnis wurde zur immer wiederholten, lebensbegleitenden Story. Und wenn ich am anderen Ende wieder in die Hosen kacke, sind vielleicht auch wieder Gitterstäbe da.

Später wurde ich dann etwas größer und ging in einen NSV-Kindergarten, der im Krieg zerstört wurde. An seiner Stelle baute ein stadtbekannter masochistischer Chirurg sein Haus.

Im Kindergarten selber wurde meine im Leben zu spielende Rolle vorprogrammiert. Als Lehrerssohn spielte ich dort mit randloser Brille, die immer auf die Nasenspitze rutschte, den gestrengen Pauker, was mir durch das väterliche Vorbild nicht schwer fiel.

Eine Mutter hatte ich natürlich auch. Die trug damals einen dicken BDM-Knoten im Nacken und lief immer neben dem Kinderwagen her, den mein glatzköpfiger Alter immer mit Stolz schob. Manchmal war die Glatze auch unter so einer Art Stresemann-Hut verschwunden; dann sah Vater eigentlich jünger aus und paßte besser zu meiner Mutter, die 13 Jahre jünger als Georg war.

Georg, so hieß Vater und deshalb wurde ich auch auf den Vornamen getauft, nur schob man noch einen Hans davor und hängte einen Hermann dran, denn der vermögende und Auto Opel P4 besitzende Onkel wurde so geködert.

Meine liebe Mutter war auch ihrer Muttersprache durchaus mächtig und sie las uns gerne etwas vor, nicht nur Märchen oder solche Geschichten (sie liebte Hermann Löns), nein, sie verschmähte durchaus auch nicht die Aktualität der Mülheimer-Zeitung. So passierte es, daß wir sie einmal nicht verstanden, weil sie mit der Bedeutung eines Trennstriches nicht ganz klar kam. Wir bekamen zu hören, daß Urin stinkt, unverständlich für uns, weil Urinstinkt gemeint war.

Mutter liebte den Humor, hat sich zeitlebens um die Ergebnisse dieses Humors bemüht und weinte dann bei fast jeder Pointe vor Lachen. Und weil sie ihre geliebten Witze nie auswendig erzählen konnte, schrieb sie jeden Jokus in einen kleinen Taschenkalender, um dann bei jeder unpassenden, manchmal auch passenden Gelegenheit, die nicht mehr belachbare Reminiszenz der besten Witze vorzutragen. Wir haben immer schon vor jedem Witzende recht herzhaft gelacht.

Deswegen wurden wir für sehr kluge Kinder gehalten, die ja früher verstanden, als es zum Verständnis nötig war.

Aber eigentlich eile ich jener Zeit voraus, als ich schon etwas gewachsener war. So kurz war meine Kindheit wirklich nicht, nein nein, sie dauert noch an. Keine Zeit ist länger, als die Kindheit eines alt Gewordenen.

Irgendwann 1938 wurde ich der deutschen Volksschule überlassen. Die Jungfrau war Fräulein, meine erste Klassenlehrerin und hieß Pfeusig. Anscheinend hatte ich schon damals etwas von meinem heutigen Charme. Ich wurde von ihr nach Hause eingeladen und konnte damals schon meiner immer noch vorhandenen Leidenschaft für Zuckerverbindungen fröhnen. Dabei lernte ich die älteren Töchter vom Fräulein kennen. Die waren lieb.

In der Schule lernte ich erst einmal lateinisch und dann deutsch sütterlin und dann wieder lateinisch schreiben.

Es war damals ganz modern, bei seinen Ahnen herumzuforschen. So schrieb ich in ein Sütterlinheft die Reihe meiner Sippe zurück bis zu den Urgroßeltern. Von denen waren dann keine Fotos mehr vorhanden, dafür mußte ich weiße Rechtecke malen, was sehr schwer war; denn ich hatte, wie später öfters noch, den rechten Winkel noch nicht ganz begriffen. Und alle Vorfahren, die ich nicht mehr finden konnte, waren, so erzählte man mir, in irgendwelchen Kirchenbüchern unter Napoleon verbrannt worden. Das war ein guter Beleg für die arische Abstammung nach Gustav Freytag, der ja die Klosterruine von Hersfeld gekannt hat.

Meine Vorfahren waren nämlich Hesseköppe, stur und fleißig und Großvater Strauch war eine tapferes Schneidermeisterlein aus einer Waldgegend, wo man Hänsel und Gretel kannte.

In der deutschen Volksschule hatte ich viele Freundinnen und Freunde. Als ich das erste brennende Gebäude meines Lebens gesehen hatte, besaß ich am Tag darauf viele Freundinnen und Freunde weniger.

Es war November 1938. Schnee war nicht gefallen, aber die Bruchstraße präsentierte sich weiß am morgen des 10, Novembers mit den herumfliegenden Federn der aufgeschlitzten Betten meiner jüdischen Freunde.

Ich wurde krank, Masern, Diphterie und doppelte Lungenentzündung. Das dauerte viele Wochen im St.Marienhospital, danach wurde ich in einen Luftkurort verschickt. Nach Dillenburg, an der Dill, einem schönen Flüßchen, in dem ich zunächst einmal fast ertrank.

Damals war ich ungefähr sieben Jahre alt und lernte, um nicht zu ertrinken, schwimmen. Das tat ich wie Hunde schwimmen, was man mir später im Unterricht des Gymansiums wieder abgewöhnte. Danach habe ich lieber getaucht, um die Wette, für eine Zigarette oder auch für Kinokarten mit Filmen, in denen ich Stewart Granger und Margaret Lockwood bewundern konnte.

Zum Gewinnen hielt ich gerne lange die Luft an. Eine Eigenschaft, die mich heute noch nicht sonderlich stört. Bei dieser Wettbewerbsform stellte sich heraus, daß mein Freund Hans Römer Tuberkulose hatte; das war rechtzeitig genug, so daß er geheilt werden konnte.

Nur natürlich warf man mir immer meine Sprunghaftigkeit vor, die ich bis heute nicht verlor. In meiner Kindheit und noch tiefer blieb ich in meiner Pubertät stecken, stecke heute noch drin in beiden und will einem so gerechten Vorurteil gar nicht entfliehen. Dann dürfte ich kein Schwarz mehr unter Fingernägeln haben und müßte Krawatten tragen.

Ich ging immer weiter zur Schule, blieb nie sitzen, wurde 1945 eingestuft, machte ohne es recht zu begreifen eine Reifeprüfung und studierte mit Unterbrechungen hinterher alles Mögliche.

Bis das jedoch soweit war, muß ich immer meine Sprunghaftigkeit berücksichtigen, denn bevor ich im Olymp der Kunstakademie landete, passierte noch eine Menge. Ein Sprung nach rückwärts gefällig?

Lassen kann ich es nicht. Leben als Seilchen springen. Schreiner wollte ich werden und Meister Blümer hatte eine richtige Werkstatt unter einer Jugendstilruine im Keller. Blümer wohnte in Omas Haus und kannte mich. Förster, Lokomotivführer oder Bundespräsident war nicht mehr mein Berufswunsch und vom Lehrer sein oder noch mehr Professorales träumte ich überhaupt nicht mehr. Deswegen kam ich auf die Idee, ein Schulpraktikum zu erfinden, was es 1947 noch gar nicht gab. Meister Blümer war dick, bequem und blickte einem immer nur mit einem Auge an, von dem man magisch angezogen wurde, weil es aus Glas war. Mit seinem anderen Auge hatte er alles andere längst gesehen. Blümer stammte aus Eppinghofen, sprach das dat so breit und beherrschte auch Mölmsch Platt.

Also praktizierte ich bei Meister Blümer, wühlte mich fegend durch Berge von Hobelspänen, lernte Knochenleim kochen und des Meisters Schnapsfahne riechen.

Aus zwei halb verbrannten Fenstern konnte der Meister ein neues machen. Ich lernte einiges bei Blümer, trank heimlich von seinem Schnaps und füllte bis zur gemachten Markierung Wasser nach. Manchmal mußte ich auch mit dem riesigen zweirädrigen Karren irgendwelche Gegenstände transportieren. Weil ich diese Vehikel nur sehr unvollkommen beherrschte, geriet ich immer wieder mit einem der Räder in Straßenbahnschienenrillen. Zu jener Zeit gab es noch sehr viele Fußgänger, die auch hilfsbereit waren. Diesen Umstand nutzte ich, bekam Hilfsbereitschaft zu spüren und wurde dadurch stark entlastet. Dann konnte ich immer zusehen, wie meine Karre ein Stück von anderen geschoben wurde und durfte interessiert schauend neben der Arbeit herlaufen. Gegen eine Lucky Strike, Kinokarte oder ähnliche Werte gab ich manchmal des Meisters Werkstattadresse preis, denn überall war ja etwas viel kaputt.

Dann hatte Blümer wieder Selbstgebrannten und künstliches Kakaoaroma und gelbliches Maismatschbrot für seine Familie.

Ich erzähle hier zwar recht lange von meinen ersten Gehversuchen in der Holzbranche. In Wirklichkeit dauerte diese schöne Zeit nur 14 Tage. Ein Traum endete an den Gesetzen der Wirklichkeit, die hieß Schule, Gymnasium und Klesse, ein Name, der in meinem späteren Dasein noch eine beträchtliche Rolle spielen wird.

Meine erste Exkursion ins volle Leben endete im Unrealen, in der Penne, vor ihrem Kadi, der hieß Klotz, das war Oberstudiendirektor Monzel und der nannte mich Strauchdieb, verpaßte mir einfach diesen Kosenamen, den ich lange behielt und eigentlich nie loswurde. Diese Bezeichnung wurde zum Begriff, Synonym für meine Unperson und spukt in verkalkten Gehirngängen weiter. Eins weiß ich jedoch genau, aus den Buchstaben vom Strauchdieb lassen sich keine Noten für eine kleine Nachtmusik schreiben.

Als ich wieder in die Reihen des humanistischen Gymnasiums Mülheim eingegliedert war, mußte ich für die entstandenen Lücken büßen.

(Hier endet leider dieser autobiographische Text.)